"Märtplatz Waggis" Louis Haegeli (1922-2010)

Dr Märtplatz Waggis uff sym legendääre Dreyrad
Dr Märtplatz Waggis uff sym legendääre Dreyrad

Als Waggis muesch e Spinnr syy, sait me - säll isch aifach wohr. Als Ainzelmasgge muesch no dr vyyl gresser Spinnr syy, und säll isch no vyyl wohrer.

Im Juni 2010 hett ain vo de grosse vo dr Zumft s'Zytlige gsägnet hett: dr Louis Haegeli, besser bikannt als "Märtplatz Waggis", wo 40 Johr ellai Fasnacht gmacht und mit Lyyb und Seel intrigiert hett. Dr Märtplatz Waggis verdient e Ehreplatz in jedem historische Ruggbligg uff dr Waggis und d’Kunscht vom Intrigiere; är hett sy Dail bitrait ass d'Fasnacht isch was se-n-isch, ass se läbt und andersch blybt und divärs und kontrovärs, und do sinn e paar Usszyg uss syne Memoire (ha-n-y ussemene Buech vo dr Hermine Haegeli entnoh, merci vyylmol).

 

 

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40 Jahre lang war ich als Märtplatz-Waggis bekannt und populär. Sogar meine eigene Familie hatte sich so fest an diese Fasnachtsfigur gewöhnt, dass sie sich ihren Vater gar nicht mehr in einem anderen Kostüm vorstellen konnte. An einem Fasnachtsmontag in den 1960er-Jahren ging Hermine mit unseren Söhnen zum Nachtessen in die «Kunsthalle». Alex, unser Jüngster, steckte damals mitten im Medizinstudium. In einem Ärztebedarfsgeschäft am Rheinsprung hatte ich mir die Woche zuvor ein Stethoskop besorgt: «Ich möchte das Beste, das es gibt – es ist für meinen Sohn.»

 

Familie an der Nase herumgeführt

Heimlich hatte ich mir ausserdem eine Larve gebastelt, die aussah wie das Hinterteil einer Sau, umgeben von einem Bart aus Stahlspänen. Dazu kam ein Doktorhut, wie es die Gelehrten an der Universität tragen. Statt einer Zottel hing freilich eine Spritze dran. Ich nahm eine Batterie mit, ein Draht führte zu einer Taschenlampe, die ich in der einen Hand hielt, in der anderen hatte ich einen Bananenstecker: Wenn ich einen «Patienten» untersuchte, leuchtete auf der Stirn der Larve ein Lämpchen auf, wie es Ärzte bei Untersuchungen manchmal brauchen.

Zuerst zeigte ich mich meiner Familie in der «Kunsthalle» als Waggis – so wie sie mich kannten – und sagte: «Habt‛s lustig miteinander, ich gehe jetzt in die Stadt.» Dann ging ich mich rasch umziehen und kam eine Viertelstunde später im weissen Arztkittel und mit Handschuhen, mit dem Stethoskop und der «saudummen» Larve als «Doktor Eisenbart» zurück. Gute 20 Minuten lang «untersuchte » ich meinen Sohn Alex und warf ihm allerlei medizinische Fachausdrücke an den Kopf. Ich führte mit ihm ein ausführliches «wissenschaftliches» Gespräch – er erkannte mich überhaupt nicht. Schliesslich holte ich Hermine zum Tanzen und sie sagte nachher zu den Söhnen: «Das ist der Vater!» – «Nein, das ist nicht möglich, das ist nicht der Vater, das kann er unmöglich sein! Das ist jemand anders, das ist ganz sicher ein Arzt!» Als am andern Morgen alle beieinander am Esstisch sassen, habe ich den «Doktor Eisenbart» nochmals angezogen – das Gelächter war riesengross.

 

Die Fasnachtsfigur, die mir liegt

Eigentlich war ich auf Anhieb zum Märtplatz-Waggis geworden. 1946 war zum ersten Mal nach dem Krieg wieder Fasnacht. Ich malte mir mit Wasserfarben das Gesicht und die Brille an und ging zum Marktplatz. Aber schon nach einer Viertelstunde merkte ich: «Das ist nicht das Wahre!» Ich ging anderntags zum Warenhaus «Knopf» und kaufte mir eine weisse Waggishose, eine blaue Bluse und eine Waggislarve; eine schön bemalte Wachslarve, wie es sie damals noch gab. Schon in der ersten Sekunde war ich davon überzeugt: «Das ist jetzt die Fasnachtsfigur, die mir liegt.»

Das Wort Waggis ist laut dem «Baseldeutsch-Wörterbuch» von Rudolf Suter ein meist abwertend gemeinter, umgangssprachlicher Begriff für die Bewohner des Elsass, für elsässische Bauern und Tagelöhner. Heute wird der nicht gerade schmeichelhafte Begriff von Baslern in dieser Bedeutung kaum mehr gebraucht. Ausser eben an der Fasnacht, wo es ganze Wagen voller Waggisse gibt, aber auch Einzelmasken wie mich.

Der Journalist Noldi Köng hat mir in den 1950er-Jahren offiziell in Zeitungsberichten den Namen Märtplatz-Waggis gegeben. Damit mir der Name nicht gestohlen werden konnte, habe ich ein Postcheck-Konto unter diesem Namen eröffnet. Der Verwalter des Postcheckamtes war ein angefressener Passiv-Fasnächtler. Er sagte: «Herr Haegeli, ich hätte Ihnen gerne die Nummer 400 gegeben, aber es war nicht möglich. Sind Sie zufrieden mit 380?»

 

Vom Intrigieren

Der «Waggis» ist eine sehr anspruchsvolle Fasnachtsfigur. Mit einem gewissen Stolz darf ich behaupten, dass ich einer der wenigen Waggis war, der fast perfekt Elsässer Dialekt sprach – dieser Dialekt liegt mir einfach gut.

Dennoch: Jedes Jahr hatte ich zum voraus von neuem grosses Lampenfieber. Im Korridor musste ich mich jeweils dazu überwinden, aufs Trottoir hinauszugehen. Doch kaum war ich einen Schritt auf der Strasse, waren alle Zweifel wie weggeblasen. Als erstes ging ich am Montagmittag immer ins Bahnhofbuffet, wo ich bei wildfremden Leuten in verschiedenen Sprachen intrigieren konnte – einmal habe ich gleichzeitig in vier verschiedenen Sprachen intrigiert. Auswärtige machen am besten mit beim Intrigieren – sie kommen nach Basel, um sich gut zu unterhalten und haben dann Freude an guten und träfen Sprüchen. Die Basler selber konsumieren bloss noch, wollen unbedingt die Schnitzelbänke hören und fühlen sich gestört durch einen lautstarken Waggis, der gut intrigiert. Es gibt auch eine gewisse Überheblichkeit von Basler Fasnächtlern, die glauben, wir seien wegen dieser erfolgreichen Fasnacht der Nabel der Welt. Das sind wir sicher nicht – jeder sollte die drei Tage auf seine Weise geniessen.

 

Kurt Furgler an der Fasnacht

Als Fasnächtler war ich eher ein Individualist, ein Einzelgänger. Vielfach erkannten mich die Leute beim Intrigieren nicht, weil ich ja privat eher schüchtern wirkte, aber als Waggis richtig «loslegte». Man darf sich aufs Intrigieren nicht vorbereiten. Wenn man merkt, dass man eine schwache Vorstellung gibt, sollte man weggehen, die Larve kurz ausziehen und eine Pause machen. Es kommt schon

wieder … Ich habe meistens alleine Fasnacht gemacht und mich beim Fasnachts-Comité nur ein einziges Mal angemeldet, aber alle Jahre meine Zugs-Plakette erhalten – man dachte wohl einfach: «Das ist wirklich ein origineller Kerl, e glungene Siech.»

Mit der Zeit wussten alle: «Das ist der Märtplatz-Waggis.» Ein einziges Mal habe ich einen Dienstkollegen mitgenommen – ich glaube 1947. Nach einer halben Stunde musste er mit dem Intrigieren aufhören und wieder nach Hause gehen, weil ich als Waggis so sehr dominierte: «Neben dir kann ich nicht Fasnacht machen.» Als Einzelmaske hat man immer eine gewisse Angst: Funktioniert es oder funktioniert es nicht? Weil ich wusste, dass Bundesrat Kurt Furgler nach Basel kommt, habe ich eine Nacht lang nicht geschlafen. Doch dann ging es gut: Furgler war brillant und schlagfertig, und mir fielen augenblicklich die besten Pointen ein. Kurt Furgler hat sich nachträglich in einem freundlichen Brief bei mir für das aussergewöhnliche Fasnachtserlebnis bedankt.

 

Nie unter der Gürtellinie

In meinen Glanzzeiten als Märtplatz-Waggis habe ich die Nächte durchgemacht. Immer morgens um fünf Uhr bin ich ins Restaurant «Helm» gegangen und habe dort bei den Offiziellen, der Regierung und deren Gäste intrigiert. Fünf Jahre lang liess sich der damalige amerikanische Botschafter einladen, bloss weil ich ihn regelmässig in englischer Sprache intrigierte – nett, wohlwollend.

Das hatte ich mir als Märtplatz-Waggis nämlich angewöhnt: Ich war nie beleidigend, ich grölte nie dumme Sprüche und zielte auch nicht unter die Gürtellinie, wie das viele Waggis an der Fasnacht nur allzu gerne tun. Das Intrigieren ist nur dann «sauglatt», wenn man mit einer feinen Klinge und witzig zuschlägt. Mit der Zeit hatte ich auch genug davon, immer auf dieselben Basler TV-Köpfe und Promis einzuhacken: Es war viel  lustiger, auf Leute loszugehen, die unbekannt waren und dafür viel natürlicher und origineller reagierten. Ob das Franzosen oder Italiener waren, Deutsche oder Engländer war mir egal. Oft ergab es sich, dass ich nach drei, vier Minuten jemandem

auf den Kopf zusagen konnte, was er macht und was er ist. Durchs Intrigieren an der Fasnacht habe ich eine unglaublich grosse Menschenkenntnis gewonnen.

 

Eine raffinierte Alte Tante …

1948 ging ich als Alte Tante an die Fasnacht. Hermine kam mit ins Sanitätsgeschäft Hauser und kaufte mir Gummibrüste und passende Strümpfe. Im Hotel «Metropol» traf ich Felix van Baerle, mit dem ich befreundet war. Er war dort mit einem reichen Zürcher Seifenfabrikanten, der sofort mit mir zu flirten begann. Aber immer, wenn er mich betatschen wollte, gab ich ihm wieder eins auf die Finger. Schliesslich lud er mich auf sein Zimmer ein, und ich lachte ihn laut aus – lachte aber nicht als Frau, sondern als Mann. Dass er nicht einen Herzschlag bekommen hat, war eines. Zum andern aber verschwand er augenblicklich vom Tisch: Er war so geschockt, dass er seither nie mehr an der Basler Fasnacht erschien.

 

… und ein braves Berner Büürli

Eine meiner besonderen Spezialitäten war es, in Zivil mit Freunden an der Fasnacht zu lauern, ob irgend ein Mäsggeli zu intrigieren begann. Damals waren die Maskenbälle in der Kunsthalle noch erstklassig. Mit einigen guten Freunden hatte ich den halben Abend verbracht und tat dann dergleichen, als ob ich schon müde wäre und nach Hause ginge.

Ich holte aber an der Garderobe eine Reisetasche und zog mich auf der Toilette um: Kittel und Hosen verstaute ich in der Tasche, schlüpfte in ein langes Nachthemd und versteckte mein Gesicht hinter der selbstbemalten Larve eines «Buuretschooli». Langsam pirschte ich mich in die Gegend meiner Freunde am Tisch. Ich sprach in langsamem, unbeholfenen Berndeutsch und begann dann zu intrigieren.

Jedem sagte ich einige dunkle Punkte auf den Kopf zu, machte dann aber auch absichtlich einige Fehler, so dass niemand auf die Idee kam, das Berner Büürli sei der Haegeli Louis oder der Märtplatz-Waggis. Es war sogar fast ein Wunder, dass ich nicht gelyncht wurde – ist es doch ein ungeheuerliches Sakrileg, wenn sich ein Berner verkleidet an die Basler Fasnacht wagt! Auf dem Höhepunkt des Verwirrspiels habe ich mich dann demaskiert und schwebte triumphierend in den höchsten Fasnachtsgefilden. Einer der wichtigsten Gründe, warum mich viele Leute beim Intrigieren nicht erkannten, obwohl ich oft längere Zeit mit ihnen zusammen war: Man kannte mich eigentlich eher als stillen Erdenbürger, der neben der starken Persönlichkeit von Hermine noch ruhiger wirkte.

 

Gefährlicher Hai-Waggis

Alle meine Requisiten habe ich selber gemacht. Die Ideen dazu schöpfte ich meistens aus dem Alltagsleben. Einmal habe ich auf den Azoren einen jungen Hai gefangen, der wohl gut einen Meter lang war. Wenn der Fisch das Maul offen hatte, machte er eine «Schnuure» wie ein Waggis. Ich liess bei Gusti Hohl daraufhin eine Waggislarve machen, die aussah wie ein Haifischkopf. Ich bemalte sie selber mit blauer Farbe, dann lackierte ich sie und bestreute sie mit Sand aus dem Rhein, denn ein Hai hat eine raue Haut, auch wenn er zu einem Waggis wird. Zwei Korkzapfen montierte ich in die senkrechten Augenschlitze des Hais, die Zapfen drehten sich an einer kleinen Achse und waren mit einem Gewicht so befestigt, dass sie immer nach unten guckten. Je nachdem wie der Kopf gedreht wurde, drehten sich auch die Augen – ein fürchterliches Aussehen!

Die Haare schnitt ich aus einem Plastik-Badevorhang zurecht. Nun suchte ich noch nach einem Requisit, das zum Hai-Waggis passte. Im Süsswarengeschäft Merkur war ein kleines Boot ausgestellt. Es war vielleicht zwei Meter lang, und es wurden darauf allerlei Süssigkeiten präsentiert. Ich bettelte den Merkur-Leuten das Boot ab und nahm es mit nach Hause in den Keller. Ich zerlegte das Ausstellungs-Objekt vollständig und begann dann, einen kleinen Dampfer samt Kamin zu bauen, mit einer Sirene, die laut losheulen konnte. Ich freute mich riesig auf die Fasnacht.

 

Mühe mit dem Riesendampfer

Als alle Aufbauarbeiten fertig waren, musste ich den Dampfer nochmals auseinandernehmen, damit ich ihn aus dem Keller ins Storchenparking transportieren konnte. Dort baute ich ihn erneut zusammen. Hermine kam vorbei und sah sich das Boot an: «Wie geht es? Funktioniert alles?» – «Es ist alles bestens! Ich komme dann bei dir vorbei, kurz nach eins mache ich mich auf den Weg für den Cortège.» Hermine liess mich wieder allein, und ich versuchte, mich mit meinem Dampfer in den Fasnachtscortège einzufädeln.

Ich hatte von allem Anfang an die grösste Mühe, mit diesem riesigen Requisit vorwärts zu kommen. Ich sagte mir: «Märtplatz-Waggis, du bisch e dumme Siech! Du hast etwas gemacht, das eine Nummer zu gross ist für dich allein! Du kannst das gar nicht allein bewältigen! Stell dir doch mal vor, was alles passieren könnte!» Das Boot war auf grosse Räder montiert und ich hatte praktisch fast gar keine Sicht nach vorne. Wenn ein Kind vor mir umgefallen wäre, hätte ich es nicht einmal gesehen! Ich machte kurz entschlossen rechtsumkehrt und stellte den mühsam zusammengebauten Fasnachtsdampfer wieder weg, ohne mich im Geringsten zu grämen.

Ich war einsichtig genug zu merken, dass dieses Requisit nicht brauchbar war. Ich ging ins Sigarrelädeli. Hermine kamen die Tränen, weil sie ja wusste, wie sehr ich mich zuvor über meinen Einfall gefreut hatte. «Aber Hermine, wein doch nicht! Das spielt doch keine Rolle. Jetzt hab ich halt mal eins aufs Dach bekommen.»

 

Waggis mit Elsässer Braut

Mitte der 1970er-Jahre machte ich einmal mit dem damaligen Radioredaktor und heutigen Winterthurer Casinotheaterdirektor Paul Burkhalter Fasnacht. Ich hatte die wunderschöne Larve einer Elsässerin gemalt. Hermine meinte zu «Päuli», er könnte doch diese junge und feurige Elsässerin an der Seite des Märtplatz-Waggis spielen. Päuli war hell begeistert. Wir zogen gemeinsam durch die Innenstadt und bemühten uns, die Aufmerksamkeit des Publikums auf uns zu lenken, in dem wir einander abwechslungsweise auf den Knien herumsassen.

Als wir dann Hunger und Durst hatten gingen wir ins Café Pellmont oben an der Freien Strasse. Inmitten der zum Teil eher säuerlich lächelnden Kaffeehausgäste hielten wir eine ausgiebige Verlobungsfeier ab. Zu zweit setzten wir uns auf einen Stuhl, schworen uns ewige Treue und als grosszügiger Verlobter offerierte ich der Elsässerin soviel Patisserie und nervenberuhigenden Tee, wie sie nur wollte. Nach einer «Show» von einer guten halben Stunde zogen wir blitzartig die Larven ab und redeten unberührt vom Entsetzen ringsum über das wachsende Elend auf dieser Welt.

Dr Louis Haegli in synere zwaite Haimet (Westport, Irland) - mit zwai ganz digge Fisch!
Dr Louis Haegli in synere zwaite Haimet (Westport, Irland) - mit zwai ganz digge Fisch!

Gwälle:

Von Künstlern, Geistern und Ganoven. Geschichten aus dem Leben der Hermine H., aufgeschrieben von Peter Kaufmann. 2009. Verlag Spectra Motion AG, 208 Seiten, 43 Franken.